Du bist die Zukunft - so hieß eine Stückentwicklung, die ich vor knapp einem Jahrzehnt an einer Dresdner Bühne inszenierte. Die Protagonisten waren - wie meine Darsteller und ich - am Anfang ihres Berufslebens stehende “Twentysomethings”, die unter dem Druck der unbekannten, aber jederzeit gegenwärtigen Zukunft zu hyperventilieren begannen.

windelzen

Leben für die Zukunft

Du bist die Zukunft: das ist einer dieser schwer zu ignorierenden Imperative, die unsere Gesellschaft an jeden Einzelnen aussendet. Sei verantwortlich für dich selbst! Nur wer heute schon an morgen denkt, hat eine reelle Chance, auch morgen noch dabei zu sein. Wer heute investiert - Geld, Wissen, Zeit, Lebenskraft - der kann, vielleicht, morgen ernten: den besseren Job, die bessere Rendite, ein größeres Stück “vom Kuchen”.

Zehn Jahre später sieht die Welt schon anders aus. Jeder der ehemaligen Twentysomethings hat irgendwann zwischen dem 30. und dem 40. Lebensjahr mindestens einmal kurz vor dem Kollaps gestanden - jeder zweite vielleicht beginnt darauf z.B. mit Meditation oder irgendeinem Achtsamkeits-Training, um dem Druck, der vom Phantom Zukunft ausgeht, irgendetwas entgegenhalten zu können. So wie dem Vampir das Kruzifix, so streckt man der Zukunft die Gegenwart entgegen. “Schau doch,” scheint man zu sagen, “ich bin ganz in diesem Moment, ich bin total effektiv und gleichzeitig furchtbar achtsam, ich tu was für mich - ich bin der Zukunft gewachsen!

No future.

Vielleicht stellt man irgendwann fest: das Gegenteil ist der Fall. Der Zukunft kann ich gar nicht gewachsen sein, denn: Die Zukunft gibt es nicht. Nichts, worauf ich mich vorbereiten kann. Nichts, was sich ansparen lässt, um später die große Rendite ausgeschüttet zu bekommen. Nicht einmal die Zeit auf dem Meditationskissen lässt sich anhäufen, auf dass sich am Ende die große Erleuchtung einstellt.

Genau genommen gibt es nur das Jetzt. Das, was jetzt ist. Genau so, wie es ist.

Stunden und Tage mit offenen Augen auf einem Kissen zu sitzen, wie wir das im Zen tun, ist auf Dauer nur möglich, wenn sich der Gedanke an ein “Später”, für das ich das alles tue, in Luft auflöst. Ich schaue mir ja buchstäblich die Gegenwart an, die aus nicht viel mehr als aus Luft, Staub, Husten, Schmerzen, Langeweile besteht - und aus ziemlich vielen Gedanken, die wie wild im Kreis rennen, bis sie sich wieder ins Nichts verabschiedet haben.

Ich lerne, bei diesem Riesen Haufen Nichts zu verweilen und nichts von ihm zu wollen: das ist Gegenwart. Zukunft? Ist eine von diesen vielen wirren Ideen, die permanent an die Tür klopfen und sich dann den Schornstein hoch wieder in Luft auflösen. Und ohne die sich, genau genommen, ziemlich gut leben lässt.

Du bist das jetzt. Und nachher bist du das, was nachher ist. Nur eben noch nicht jetzt.

Sein und Zeit: Sein-Zeit

Eine der - auch für den Alltag - wichtigsten Einsichten buddhistischer Philosophie war für mich das Zeit-Verständnis, wie es Meister Dõgen im Shõbõgenzõ Uji, zu deutsch “Die Sein-Zeit”, darlegt. Auf kaum nacherzählbare, poetische Weise löst Dõgen das lineare Verständnis der Zeit, das uns so naturgegeben erscheint, auf; an die Stelle des alltäglichen “Zeit-Konzeptes” tritt der Augenblick als einzig real existierende Form der Zeit. In einer Kette aus Augenblicken steht doch jeder Augenblick für sich - der Frühling weiß nichts vom Sommer, der Sommer nichts vom Winter.

Es existiert einzig das Jetzt. Jetzt. Und jetzt.

Das mag theoretisch klingen, ist jedoch konkret erfahrbar und in der Praxis auch ziemlich hilfreich. Wenn ich nämlich mal alle Sorgen um die Zukunft (siehe oben) und alles Kreisen um Vergangenes loslasse, finde ich mich meist in einer ziemlich konkreten, unmittelbaren, einfachen Situation wieder: dem, was wir Gegenwart nennen. Und die ist oft sehr frisch und unverwechselbar, um nicht zu sagen: in jedem Augenblick neu.

Wenn es mir dann noch gelingt, der Versuchung zu widerstehen, die Empfindungen und Emotionen aus diesem Augenblick in den nächsten zu nehmen, und mich, statt am Erfahrenen zu haften, dem immer wieder Neuen zu öffnen, dann bin ich schon ziemlich nah dran an diesem “Jetzt”, das immer nur jetzt ist.

Sein und Zeit sind im Zen nicht durch das Wörtchen “und” verbunden; Sein und Zeit müssen nicht zusammen gedacht werden, denn sie sind eins: Sein ist Zeit, Zeit ist Sein.

Du bist das Jetzt. Nur jetzt, in keinem anderen Augenblick kannst du sein. Das heißt zweierlei: 1. Es gibt dich nur jetzt, in diesem Augenblick. 2. Und gleichzeitig wäre das Jetzt nicht ohne dich.

Das Zen der frisch gewaschenen Windeln

An die Stelle der drohenden Zukunft inmitten des kreativen Prekariats ist in meinem Leben die immer wieder überraschende und in Anspruch nehmende Gegenwart des Lebens mit zwei Kindern getreten. Seit einem halben Jahr hängen um meine Meditationsmatte desöfteren frisch gewaschene Windeln. Das Jetzt - es ist ziemlich konkret. Und lässt kaum Platz für Gedanken an die Zukunft. Es gibt nur dies.

Macht euch also keine Sorgen um den kommenden Tag - der wird schon für sich selber sorgen. Es reicht, dass jeder Tag seine eigenen Schwierigkeiten hat. (Matthäus, 7,34)


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