Ich lebe seit einem halben Jahr am äußeren Rand der Stadt. Hier, vom alten Bauernhaus, nur einen Steinwurf vom Feld entfernt, führt ein kleiner Weg, der “Brander Marktsteig”, am Bach entlang Richtung Stadt, vorbei an Pferdekoppeln und Kleingärten. Ein Kirchturm erhebt sich jenseits des Feldes. Es ist ein schönes Stück Weg bis in die “City”.

Von allem zu viel

Aus der Abgeschiedenheit in die Betriebsamkeit der sächsischen Kleinstadt kommend, bin ich - obwohl nicht in Berlin oder Leipzig, sondern nur in Zwickau - schnell befremdet von dem Überangebot, das mir auf Schritt und Tritt wie ganz selbstverständlich unterbreitet wird. Anzeigen, Plakate, Schaufenster - überall und medienübergreifend ruft es: Beachte mich! Kauf mich! Konsumiere mich! Verschwende deine Zeit!

Währenddessen ist mit PC und Smartphone der Draht zur Zeit und zu allen irgendwie nötigen Netzwerken sichergestellt: Keine Debatte wird mehr verpasst, Kommentarschlachten blasen jedes Thema bis zur Implosion mit Bedeutung auf; was wichtig ist, wird geschrieben und gefilmt - und was gefilmt, geschrieben und gesagt wird, ist doch wohl auch wichtig!

Von allem zu viel?

Von allem etwas weniger, bitte

Zen kommt in solchen Situationen gerade recht: es bietet eine Möglichkeit zur Abkehr und zur Heimkehr, vielleicht auch zur Flucht. Zen ist Reduktion und Minimalismus, allerdings nicht als “Programm”. Klarheit, Einfachheit, Natürlichkeit sind im Zen keine Ideen, sondern das simple Resultat einer Praxis, in denen man den vertrauten Denkgewohnheiten und Bedürfnissen einmal nicht folgt.

Mein “Ich” existiert nur, weil ich mich “dir” gegenüberstelle. Weil ich glaube, getrennt zu sein, anders zu sein. Mit der Welt verbindet mich das Begehren: Ich begehre, was ich - scheinbar - nicht bin. In der Aneignung dessen, was ich begehre, in der Identifikation mit dem Anderen, erschaffe ich mich. So befriedige ich Bedürfnisse, um zu wachsen, ich sammle Dinge und bedarf all dessen, was ich nicht habe, um mich zu erweitern, zu vervollständigen, zu entwickeln. Das Ich entsteht als angenommene Festung inmitten der Wirren der Welt, und seine Macht beweist sich letztlich darin, wie es - im Denken wie im Handeln - über Anderes verfügt, um seine Bedürfnisse verfolgen und stillen zu können.

Im Zen, im Stillwerden und Innehalten, in der puren Präsenz und im Gewahrsein dessen, was jenseits meiner Ideen und Vorstellungen ist, wachse ich über das Getrenntsein hinaus.1 Was wenn ich nicht getrennt von all dem bin, was ich pausenlos in mich hineinfresse?

Auf dem Kissen angekommen, fällt irgendwann dieses Unruhe stiftende Bedürfnis nach Beschäftigung und Bestätigung, nach dem Anderen, von einem ab. Es geht auch ohne. Ohne Konsum, Zerstreung, permanente Aktion. Die Welt ist, ganz einfach, da. Und ich bin es auch.

Und jetzt davon bitte ganz viel

Zen ist eine gute Praxis, um dem Konsum, dem Verbrauch von Gütern zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, an die Wurzel zu gehen: Wenn ich eins bin nicht nur mit mir, sondern mit der Welt an sich, wenn auch das Fremde mir nicht fremd ist und mir eigentlich nichts fehlt, dann ist das der Königsweg zur Zufriedenheit im Jetzt, zum Handeln im und mit dem Augenblick. “Es existiert nur Hier”, heißt es bei Dogen. Eine wahrhaft befreiende Sicht.

Aber Moment. Kaum hat sich der Gedanke verfestigt, stelle ich fest: Ich konsumiere schon wieder. Kaum ist nach dem Sesshin das Schweigebot aufgehoben, zeigt sich: Wir sind, auch im Zen, nur Sammler unserer Erfahrungen; wie einen Korb mit Pilzen legen wir diese, jeder die seinen, nun voreinander hin und vergleichen, tauschen, begehren…

Kein Zweifel: Wir konsumieren Zen.

Kaum ist der Geist zur Ruhe gekommen, kaum blitzt hinter den gewohnten Mustern und Formen die Leere hervor, bastle ich schon wieder an meiner Einrichtung der Welt. Was auch immer mir begegnet: Ich sauge es auf und verwerte es - ganz wie es mir gefällt. Und wie ich es gewohnt bin.

Es braucht nur einen Kieselstein, um darauf ganze Ideengebäude zu errichten. Aus den Gedanken entstehen die Häuser, die Sicherheitszonen, die wir “Unbehauste” jederzeit bereitwillig beziehen. Wirklichkeit und Idee, Leere und Form, Täuschung und Erwachen: im Zen sind das nur scheinbar Gegensätze. Auch in der Zen-Praxis bin ich nicht davor gefeit, dass aus einer Erfahrung eine Weltsicht, aus Unmittelbarkeit und Natürlichkeit eine Ästhetik und aus einem kurz aufblitzenden Gedanken, dem Anhaften sei Dank, eine Idee wird, an die ich mich halte …

Manchmal ist es dann ganz heilsam, sich den Zeh an jenem Kieselstein zu stoßen und all die Gebilde in sich zusammenstürzen zu sehen. Für einen kurzen Moment bin ich ganz im Hier und Jetzt - im nächsten Moment schon wieder auf und davon.


  1. Mit Dank an Patrick Damschen für diese Formulierung. 


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