Zazen ist eine Praxis für den Alltag, also bestenfalls eine tägliche Praxis. Zen findet nicht als Ausnahme statt, ist keine Sache für den Urlaub, sondern geschieht jetzt. Heute, morgen, alle Tage.

Sesshin am Benediktushof

Zwei mal im Jahr nehme ich mir allerdings ein paar Tage frei, um an einem Sesshin teilzunehmen. Zuletzt war ich fünf Tage am Benediktushof1 in Unterfranken, wo Brad Warner ein Retreat abhielt. Um dessen marktschreierisch aufgemachte Bücher hatte ich lange einen Bogen gemacht - bis ich feststellte, dass Hardcore Zen und einige weitere seiner Veröffentlichungen vielleicht das Beste sind, was ich über Zen bisher zu lesen fand.

Dieses einfache Retreat stellt die Übung des Shikantanza in den Vordergrund, die Übung, die Meister Dogen im 13. Jahrhundert in seinem Klassiker beschreibt: “Shobogenzo: Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges.” Die meiste Zeit verbringen wir mit Sitzen in der Stille. Je 30-minütige Einheiten, im Wechsel mit 10-minütiger Gehmeditation. Diese schlichte Übung wird von Meister Dogen als die tiefste und wirkungsvollste Meditation angesehen.2

Fünf Tage lang schweigen, sitzen, an die Wand starren - warum tu ich mir das an?

Der Zen-Garten am Benediktushof

Sammlung des Herz-Geistes

„Sesshin“ heißt soviel wie „Sammlung des Herz-Geistes“. Klingt erbaulich und wunderschön - ganz so poetisch geht es bei einem Sesshin allerdings nicht zu. Ganz konkret lässt sich die Zeit, die man in der Abgeschiedenheit verbringt, so beschreiben:

  • Am ersten Tag siehst du die vielen Tage, die du noch vor dir hast, und fragst dich, wie um alles in der Welt du das aushalten sollst.
  • Am zweiten Tag hast du dich mit der Langeweile, den Abläufen und der Stille arrangiert; manchmal glaubst du, irgendwie „tiefer“ zu kommen, näher an das „Geheimnis“; irgendeine Erfahrung zeichnet sich, deiner Meinung nach, ab.
  • Am dritten Tag lässt sich das Empfinden des Vortages nicht wiederholen - dafür tun dir alle Knochen weh. Pausen ziehen in die Selbstgespräche ein.
  • Am vierten Tag fragst du dich, wo die Zeit hin ist, vor der du dich soeben (?) noch gefürchtet hast - und was du eigentlich die ganze Zeit gemacht hast.
  • Am fünften Tag machst du dich im Kopf schon auf die Reise, während du eigentlich noch auf dem Kissen sitzt.

Die Sammlung des Herz-Geistes sollte man also nicht zu wörtlich nehmen; sonst scheitert die Idee womöglich an der Wirklichkeit. Ein Sesshin ist der bestens geeignete Rahmen, um nichts passieren zu lassen.

Hardcore Zen

Im Normalfall ist es bei solchen Veranstaltungen Aufgabe des Assistenten, zusammen mit dem Lehrer alles so zu organisieren, dass auch tatsächlich nichts passiert. Nichts Vermeidbares zumindest. So wirken Sesshins schnell wie organisierte Gruppenreisen: Eventualitäten, Unsicherheiten, Irritationen sind soweit wie möglich auszuschließen. Der Grund: die Teilnehmer sollen sich ganz auf sich konzentrieren, sich „sammeln“ dürfen. Das gelingt am besten, wenn möglich wenig Fragen aufgeworfen werden.

Anders bei Brad Warner. Von Beginn an lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Rolle des Zen-Meisters nicht spielen wird. Alles atmet einen Hauch Chaos, oft scheint total offen, was als nächstes passiert. Dass man von Irritationen und Fragen konfrontiert wird, stört indes die eigene „Sammlung“ kaum - höchstens da, wo es eben der Erwartung nicht entspricht. Alles geht seinen - improvisierten, spontanen - Gang. Und organisiert sich von selbst.

Willkommen in der Wirklichkeit.

Teishos (Vorträge) sind im eintönigen Tagesablauf eines Sesshins willkommene Gelegenheiten, die Beine zu entspannen und ein paar anregende, inspirierende Gedanken aufzuschnappen, die im Idealfall auch noch etwas mit der eigenen Praxis zu tun haben und das Wissen erweitern. Brad Warner beginnt meist, über einen Text wie z.B. Dogens Fukan zazengi zu reden, schweift dann aber doch in Anekdoten ab, die oft weder mit dem Text im engeren noch mit Zen im weiteren Sinn zu tun zu haben scheinen. Am Ende wird die Zeit knapp, man hat viel gelacht, aber eigentlich wenig erfahren. Oder?

Als wäre er nur ein Übender unter vielen, lässt Warner die Erwartungen an den Zen-Meister, der vielleicht kryptische aber doch weise Lehren vermittelt, ganz bewusst unbeantwortet im Raum stehen. Zunächst fragt die Erwartung noch: Tschuldigung, wer ist hier der Boss? Weil aber aus der Runde der Schweigenden keine Antwort kommt, verzieht sich die Erwartung - es bleibt: nichts. Nichts als die Wirklichkeit.

So fühlt sich also Hardcore Zen an: Eine Praxis, die dir von niemandem bestätigt und abgenommen wird. Eine Praxis für niemanden - nicht für den Lehrer, nicht für dich selbst. Eine Praxis, die nichts mit deinen Gedanken (gut, schlecht, wahr, falsch, heute, morgen) zu tun hat, sondern nur mit der physischen Präsenz im Hier & Jetzt.

Erkenntnisse?

Zazen ist keine Übung, um etwas zu erkennen. „Verehrt die Menschen, die aufgehört haben zu studieren und nichts mehr suchen“, heißt es im Fukan zazengi3. Tatsächlich kommt man mit leeren Händen aus dem Sesshin, vor allem aber: ohne irgendeinen Anspruch, das das anders sein müsste.

Nach den Tagen in der Stille kommt es mir oft so vor, als sei ich etwas näher dran an mir und der Wirklichkeit. Nichts, was man festhalten oder beschreiben könnte. Nur ein vages Gefühl im Bauch, eine Ruhe, Zufriedenheit, leise Freude an allem, was mir über den Weg läuft.

Im Zen braucht es keine Erkenntnisse. Jede Erkenntnis wäre nur Futter für die Gedanken, die ich mir eh die ganze Zeit mache. Im Starren auf die Wand, im langsamen Gehen, stellt sich irgendwann eine Art Vertrauen ein, dass es hier vielleicht gar nicht um mich geht.

Es ist Täuschung, wenn wir uns selbst zwingen, die zehntausend Dinge willentlich zu üben und zu erfahren. Es ist Erwachen, wenn die zehntausend Dinge uns selbst auf natürliche Weise üben und erfahren. …4

Das letzte Teisho beginnt Brad Warner mit einem Song von Leonard Cohen, der hier auch schon einmal Thema war5:

You lose your grip, and then you slip
Into the Masterpiece.

Vielleicht ist doch etwas dran, an dieser “Sammlung des Herz-Geistes”, die ein Sesshin sein soll. Nur dass es eventuell gar nicht mein Herz ist, dessen Geist sich da sammelt?


  1. Website des Benediktushofs 

  2. Aus der Beschreibung der Zazen-Retreats mit Brad Warner auf der Website des Benediktushofs

  3. Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. Band 1, S.313. 

  4. Dogen: Genjo Koan. Ebd, S. 57. 

  5. A Thousand Kisses Deep. Siehe dieser Beitrag


Weiterlesen:

Kommst du mit in den Alltag?

Wer auf der Suche nach dem Besonderen, nach extremen Erlebnissen, nach Erleuchtung ist, der wird von seinem Kissen schnell wieder aufstehen.

weiterlesen

Meditiere ich richtig?

Warum kann ich im Zen eigentlich nicht "richtig" meditieren?

weiterlesen

Eine Geschichte von "weniger" und "mehr"

Wir sind, auch im Zen, nur Sammler unserer Erfahrungen; wie einen Korb mit Pilzen legen wir diese, jeder die seinen, nun voreinander hin und vergleichen, tauschen, begehren… Kein Zweifel: Wir konsumieren Zen.

weiterlesen

Sit Down and Shut Up

Wie in einem guten Popsong schafft es Brad Warner immer wieder, die passenden Slogans und die treffenden Bilder zu finden, um in knappen Sätzen zum Ausdruck zu bringen, was anderswo blumig verpackt und esoterisch aufgeweicht wird.

weiterlesen

There Is No God and He Is Always with You

Ausgerechnet Brad Warner, der in seinen bisherigen Büchern Hardcore- und Punkmusik, japanische Monsterfilme und Zen zusammenbrachte, für die Suicide Girls Blogbeiträge verfasste und als rosa Kaninchen auf Youtube zu sehen ist, schreibt ein Buch über Gott? Warum eigentlich nicht?

weiterlesen