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Das Jahr 1233 war laut Shohaku Okumura ein sehr wichtiges und produktives Jahr für den Begründer der japanischen Sõtõ-Zen-Linie, Eihei Dõgen: 1227 aus China zurückgekehrt, gründete er Ende 1233 sein erstes eigenes Kloster. Zentrale Schriften entstanden in diesem Jahr, die im knapp 100 Kapitel umfassenden Shõbõgenzõ (zu deutsch: Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges) am Anfang stehen: das Genjõ kõan und das Makahannya haramitsu.

Den meistzitierten vier Seiten des Shõbõgenzõ, dem Genjõ kõan, widmet Okumura dieses 300 Seiten starke Buch. Wort für Wort erörtert er das Genjõ kõan, das Kapitel des Shõbõgenzõ, in dem Dõgen sein Verständnis der Wirklichkeit und der buddhistischen Lehre in der kürzesten und dichtesten Form zum Ausdruck bringt. Das Genjõ kõan ist wie ein Brennspiegel, in dem sich der Inhalt des gesamten Shõbõgenzõ in komprimierter Form wiederfindet. Mit der eingehenden Analyse dieses Kapitels gelingt Okumura somit gleichsam eine Darlegung der zentralen Inhalte des Shõbõgenzõ.

Genjõ kõan, oder: Die Frage nach der Verwirklichung der Wirklichkeit

Dazu unterteilt Okumura das Genjõ kõan in 13 kurze Abschnitte, anhand derer er dann in einzelnen, gut lesbaren Kapiteln Dõgens Darlegungen zur Zeit, zur Erleuchtung, zu Leben und Tod, zu Erwachen und Täuschung erörtert. Das macht er mit der Akribie und Genauigkeit eines Forschers - so dass man neben vielen praxisbezogenen Einsichten u.a. auch ein “Gespür” für die Feinheiten der japanischen Sprache erlangt.

Genjõ bedeutet “die in diesem Augenblick vorhandene Wirklichkeit”, und kõan bedeutet “die absolute Wahrheit, die die relative Wahrheit umfasst” oder auch “eine Frage, die uns die wahre Wirklichkeit stellt”. Genjõkõan bedeutet also, “durch die Praxis unserer alltäglichen Handlungen eine Antwort geben auf die Frage, die die wahre Wirklichkeit uns stellt”.

Okumura erschließt auch vielen Zitaten eine neue Bedeutung, die man hinlänglich zu kennen meint - tatsächlich stammen fast alle Aussagen Dõgens, die in Zen-Kreisen umhergereicht werden, aus diesen wenigen Seiten. Manchmal entschuldigt er sich fast für philosophische Ausflüge, z.B. in die vom indischen Philosphen Nagarjuna begründete Schule des Mittleren Wegs. So aber erfährt man zahlreiche philosophische und geschichtliche Hintergründe, die die Praxis des Zen noch einmal aus einer anderen Perspektive her gewinnbringend beleuchten.

Form oder Leere? Oder: Die Wahrheit liegt im Handeln

Dennoch:

Praxis ist Handeln, nicht denken!

Ukumura beschreibt Dõgen nicht als Philosophen, sondern als Zen-Meister, dessen Praxis ganz auf das konkrete Handeln und Sein im Augenblick ausgerichtet ist.

Dõgen misst der wahren Wirklichkeit allen Seins eine wesentlich größere Bedeutung bei als jeder von uns gedachten Vorstellung von dieser Wirklichkeit. Er sah die wahre Wirklichkeit nicht nur im Bereich unseres Denkens, sondern erkannte, dass jedes einzelne der Myriaden Dinge selbst die Wirklichkeit ist.

In der Zen-Praxis übt man sich darin, so zitiert er seinen Meister Kosho Uchiyama-Roshi, den Griff der Hand des Denkens zu lösen.

Wenn wir denken, ergreifen wir “Dinge” mit der “Hand” des Denkens und glauben, sie seien tatsächlich die Vorstellungen, die wir uns von ihnen gemacht haben. Bei unserer Zazenpraxis öffnen wir die Hand des Denkens, lösen den Griff, der die Dinge festhält, und diese Vorstellungen fallen von uns ab.”

Shikantaza, oder: Nichts als Sitzen

Körper und Geist fallen zu lassen, das Selbst zu studieren, indem man das Selbst vergisst und eins wird mit den Myriaden von Dingen: all das gründet in der felsenfesten Gewissheit Dõgens, das nichts als Sitzen der Schlüssel zur Buddha-Natur ist:

Shikantaza wird nicht vom Individuum ausgeübt, vielmehr ist es eine Praxis, in der das individuelle karmische Ich losgelassen wird, das unablässig darum bemüht ist, seine eigenen Begierden zu befriedigen. Beim Zazen offenbart sich das wahre Selbst, das Selbst, das eins ist mit dem ganzen Universum.

Die “Experten” sind sich nicht zu 100% sicher, doch Okumura lässt kaum einen Zweifel: In Dõgens “Lehre” und in der Praxis des shikantaza spielt satori, der Moment der Erleuchtung, keine Rolle.

In seiner Lehre ist das Erwachen eine tiefgründige Wahrnehmung der Tatsache, dass unsere Existenz uns nicht persönlich gehört.


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