Auf den Spuren der Chinesischen Medizin probiere ich momentan einige alternative Ernährungsweisen aus.1 Dies soll kein Beitrag über die Ernährung nach den fünf Elementen werden. Und es kann hier auch gar nicht um Fragen der richtigen oder falschen Ernährung gehen. Daher nur kurz: nach der chinesischen Betrachtungsweise dessen, was wir als unseren Körper bzw. Geist bezeichnen, werden Lebensmittel vorzugsweise erwärmt oder gar in Suppenform zu sich genommen, um unserem Verdauungssysem die Verarbeitung der in den Lebensmitteln gespeicherten Energie zu erleichtern.

Nun steht allein dieser eine Punkt diametral anderen “Lehren” zur gesunden Ernährung entgegen. Vitaminreiche Rohkost? Nein: 3 mal täglich warm bitte!

Allerdings basiert die Chinesische Medizin auf genauer Beobachtung, nicht auf in Stein gemeißelten Lehren. Man verändert etwas und schaut, was es bewirkt. Man schaut genau hin. Man macht mit dem weiter, was hilft, und lässt weg, was nicht funktioniert. Eine allgemeingültige Regel, oder gar eine Wahrheit, gibt es nicht.

Und damit sind wir mitten im Zen.

Zen-Geist: Anfänger-Geist

Nicht im Besitz einer Wahrheit, ertaste ich mir meinen Weg durch das Sein wie ein Wanderer im Nebel.

Shunryu Suzuki, der maßgeblichen Anteil an der Verbreitung des Zen in den USA hatte, gab seinen Unterweisungen in die Zen-Meditation den Titel “Zen-Geist, Anfänger-Geist”. Im Zen, so schreibt er im Vorwort, ist man wie in den Künsten, “immer ein Anfänger”.

Für Zen-Schüler ist es das Wichtigste, nicht dualistisch zu sein. Unser “ursprünglicher Geist” enthält alles in sich. Er ist immer reich und genügt sich selbst. Diesen euren selbstgenügsamen Geisteszustand solltet ihr nicht verlieren. Damit ist kein verschlossener Geist gemeint, sondern dass er wirklich leer und bereit ist. Wenn euer Geist leer ist, ist er stets für alles bereit; er ist offen für alles.

Die Vorstellung einer (der) Wahrheit als einer fixen, dem Seienden zu extrahierenden Größe, ist dem Zen fremd. Dem Sein eine Wahrheit gegenüberzustellen ist ein gedankliches Konstrukt, ist die Aufspaltung der einen Wirklichkeit in einen grundlegenden Dualismus: Hier Sein, da Wahrheit; hier Körper, da Geist.

Körper und Geist, Sein und Wahrheit, Form und Leere: da ist nichts, was getrennt werden könnte.

Die Wahrheit liegt allein in dem, was ich tue; sie ist ebenso wie mein Sein nur im Moment; sie ist individuell und veränderlich; vor allem aber: sie geht weit über reines Denken hinaus, sie lässt sich nicht denken. Was ich bin, ist immer schon “wahr” (auch wenn ich das nicht unbedingt wahrnehmen muss). Es ist nicht gut oder schlecht - das sind wiederum Kategorien aus dem Fundus meines Denkens, die mit “Wahrheit” nichts zu tun haben.

Die Praxis des Zen setzt den Hebel immer wieder an dieser Stelle an: an unseren Konzepten und Gedanken, von denen wir glauben, sie bildeten die Wirklichkeit ab. An die Stelle unseres imaginären Experten-Status tritt in der Zen-Praxis nichts. Anfänger-Geist heißt, in diesem nichts zu verweilen, offen für eine Erfahrung, für eine Begegnung jenseits meines Wissens und Denkens.

Vom Erlernen der Wahrheit

[Die Wahrheit zu erlernen] bedeutet, durch den Sumpf [des Alltags] zu waten und im Wasser [der Schwierigkeiten] zu stehen,

schreibt Dogen im Shobogenzo Shinjin gakudo2. Angesichts vermeintlicher Schwierigkeiten haben wir natürlich jede Menge an Ratschlägen und überkommenen Wahrheiten parat. Doch so, wie jede helfende Hand einen Schatten wirft, steckt in jedem Ratschlag und in jeder fertigen Antwort eine Bewegung, die mich aus den Kontakt zur Situation in eine scheinbar sichere Distanz bringt.

Wenn Wahrheit genau das ist, was ich in diesem Augenblick bin, was ich jetzt tue, und jede andere, auf Allgemeingültigkeit pochende Wahrheit eine Vereinbarung oder eine Illusion ist, lerne ich nur im konkreten Handeln und Geschehenlassen, so Dogen. “Ihr erlernt die Wahrheit nur, wenn ihr euch [von den Theorien darüber] nicht einfangen lasst.”

Lernen im Handeln und Handeln als Lernender: nicht im Besitz einer Wahrheit, ertaste ich mir meinen Weg durch das Sein wie ein Wanderer im Nebel. Ich kann nicht nur nicht verhindern, dass mich das Sein vollends durchdringt, nein: genau darum geht es. Ich bin, um zu sein - nicht um darüber zu wissen. Zen ist der bewusste Verzicht auf den Abstand, den der Klügere immer schon hat.

Nicht zu wisssen ist das Direkteste und Vertrauteste.3

Der chinesische Kaiser frate Bodhidharma: “Wer ist dieser Mensch, der vor mir steht?” Dieser antwortete: “Ich weiß es nicht.” Können wir davon ausgehen, dass Boddhidharma die Wahrheit sprach?


  1. Eine gute Einführung, die die TCM vor allem nicht gegen die westliche Medizin ausspielt, bietet: Dr. med. Georg Weidinger: Die Heilung der Mitte. Ennsthaler Verlag 2014

  2. Kapitel 37 des Shobogenzo: Körper und Geist erlernen die Wahrheit. 

  3. So Meister Keichin zu Meister Hogen. Koan 2/71 im Shinji Shobogenzo


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