Das Jahr ist zwei Wochen alt; viel ist passiert, neu ist das Wenigste daran. Wieder geht ein langer Arbeitstag zu Ende, und am Abend, wenn das, was wir Freizeit nennen, froh lockt, geht mein Kopf regelmäßig mit mir durch. Zumindest glaube ich die Pferde, die mich reiten, irgendwo in diesem Bereich über meinem Hals verorten zu können.

Was will ich alles lesen, was will ich alles schreiben, was geht mir an Gedanken durch den Kopf, was von den Sorgen bleibt heute unerledigt liegen? Welchen Film habe ich verpasst? Trinke ich Tee oder lieber Bier? Also bitte: Was tue ich heute Abend?!

Warum sagt mir keiner, was in dieser Situation das Beste für mich ist? Will ich überhaupt das “Beste” oder nicht lieber einfach nur ein bisschen Ablenkung? Vor allem möchte ich natürlich Zeit: Zeit für mich, meine Freunde, die Familie, das Kind…

Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich durch mein Leben laufe wie durch einen Katalog. Das hätte ich gern noch und das. Aber das hier, das riecht nach Arbeit, das würde ich gern zurückgeben.

Wo ist im Leben die Storno-Abteilung?

Alles bewegt sich, verändert sich, Konturen zerfließen, die Zeit wird knapper, die Welt hält nicht an. Keinen Atemzug lang. Im Grunde stapeln wir permanent Pakete im Raum umher und versuchen so, den Gang der Dinge unter Kontrolle zu behalten. Was wir nicht wollen, geben wir am liebsten wieder zurück, was wir mögen, davon hätten wir gern mehr. Arbeit, Freizeit, Liebe, Hass, Freunde, Feinde - diese Schilder pappen wir an die Regale, in denen sich unsere Pakete stapeln.

Zwischendurch passiert dann was, das ist eigentlich viel zu groß für unsere Alltagspakete, aber auch damit müssen wir schließlich irgendwohin. Wir warten darauf, dass endlich einmal Ruhe einkehrt in unserem Leben und in der Welt - und bis dahin reden wir einfach weiter.

Die einen schreien: PEGIDA. Die anderen rufen: . Dann alle in einem Chor: Je suis Charlie. Bis plötzlich alle glauben, sich entschuldigen zu müssen: Natürlich können nicht alle Charlie sein, die jetzt behaupten, Charlie sein zu wollen. Aber ich, ich fühle auf jeden Fall mit den Opfern. Und Terrorismus? Ist böse.

Manchmal kam mir dieser Tage der Gedanke, dass Social Media wie geschaffen dafür ist, unsere von Haus aus schon egozentrische Weltsicht ins Unermeßliche zu verstärken. Jeder hat etwas zu sagen. Reden scheint wichtiger als Zuhören; von dem, was man hört, muss man selbstredend ganz schnell selbst eine Meinung haben, von der man dann selbst wiederum reden muss, denn nur wer redet, wird gehört, und nur wer gehört wird, existiert …

Psst… “Je suis Ungetrennt.”

ungetrennt

Zwei ganz leise Textstellen, die mich dagegen in den vergangenen Tagen berührt haben:

In den Medien und Sozialen Netzwerken gibt es wie so oft eine Welle von Spekulationen, Kommentaren und Analysen, leider häufig auch Angriffe und Verletzungen, die aus der Anonymität in den Raum geblasen werden. Wem nützt das? Solche Form der “Auseinandersetzung” hält den Krieg in unseren Köpfen lebendig und ich wünsche mir manchmal einen Schalter, mit dem ich alle Medien abschalten könnte,

schreibt Patrick Damschen, der Betreiber des schönen 3 Schätze Online-Shops in seinem Blog.1

Zen-Meister Suzuki sagte einmal “Es reicht aus, eine Ecke dieser Welt zu erhellen”. Verlangsamung, Ruhe und wirkliches Zuhören gehören meiner Meinung nach dazu. Sich selbst zuhören, dem eigenen Geist, dem eigenen Körper, dem Atem, dem Herzschlag, das ist für mich Religion. … Die Rückkehr zum Ursprung und die Beschäftigung mit der Wirklichkeit der Dinge, sind für mich seit vielen Jahren ein wichtiger Teil meines Lebens. Auf dieser Suche vertraut zu werden mit dem was wir Buddha-Natur, andere Gott oder grossen Geist nennen, ist eine Erfahrung, die nur in Einheit und Verbindung münden kann, nicht aber in Trennung und Gewalt gegen Andersdenkende.

Und Gesshin Greenwood schreibt in Ihrem Blog That’s So Zen zum Thema Religion, Violence and Submission über Gnade im buddhistischen Kontext:

“Grace” isn’t a word that shows up much in Buddhism. It’s a Christian concept, although it surfaces in Islam and Hinduism too. Grace is the experience of receiving God’s love. I’m not Christian and don’t have any relationship with God explicitly in my life, so what I mean by grace is a little different. Shortly after leaving Japan, when my mother asked me what I missed most about the monastery, I told her I missed the “feeling of having my life organized by something simultaneously good and not-me.” In communal religious life, it’s very easy to dissolve your ego in something good. And that feels good. For me, “living by vow” is grace: replacing my own personal preference with a vow to save all beings, and organizing my life around that vow.

Noch einmal auf Deutsch: Die “Gnade” des Buddhismus besteht darin, dass es mir erlaubt, meine persönlichen Einstellungen, Urteile und Konzepte zurückzustellen - zugunsten eines Größeren, Grundlegenderen, das über mich hinausweist.

Lausche den Klagen der Welt

Am Abend, im Zug, sehe ich den Sonnenuntergang. Kurz denke ich: Wenn wir nicht wären, wer könnte die Schönheit der untergehenden Sonne am Winterhimmel empfinden? Dann fällt mir auf, wie anmaßend dieser Gedanke ist. Ich bin Teil dieses Wunders, ich bin nicht sein Zweck. Es geht nicht um mich.

Heimgekehrt, den Kopf voll der Gedanken, Aufgaben, Gespräche, Emails des Tages, entscheide ich mich schließlich, mich auf mein Kissen zu setzen. Ganz einfach da zu sein. Die Stimmen in meinem Kopf begehen lautstark, aber nicht sonderlich fröhlich, Feierabend. Ich lasse sie und lausche dem Schweigen der Welt. Ich werde ruhig. Halte den Schmerz aus. Und das Glück.

Mitgefühl hat nichts mit Reden zu tun. Sondern mit Hören. Nicht umsonst “lauscht” Avalokiteshvara, der Bodhisattva des Mitgefühls, den Schreien und Klagen der Welt.


  1. Dessen Banner “Je suis ungetrennt” ich für diesen Beitrag nutze. Danke! 


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Der deutsche Filmemacher Tim Graf weilte im März 2011 gerade in Japan, um an einer Dokumentation des Zen-Buddhismus zu arbeiten. Das große Erdbeben mit dem Tsunami und der Katastrophe von Fukushima schien diese Pläne vorerst zu zerstören - bis Graf gewahr wurde, wie Priester aus den zahlreichen Zen-Klöstern unter den ersten Helfern waren.

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