Überlegt einfach sorgfältig in jeder Situation, der ihr begegnet; tut alles, was eurem Gegenüber auch nur den kleinsten Nutzen bringen kann, und kümmert euch nicht darum, was die Leute von euch denken mögen. (Dõgen)1

Der deutsche Filmemacher Tim Graf weilte im März 2011 gerade in Japan, um an einer Dokumentation des Zen-Buddhismus zu arbeiten. Das große Erdbeben mit dem Tsunami und der Katastrophe von Fukushima schien diese Pläne vorerst zu zerstören - bis Graf gewahr wurde, wie Priester aus den zahlreichen Zen-Klöstern unter den ersten Helfern waren. So entstand ein Film, der mit ethnologischem Blick die Tradition des Zen-Buddhismus in Japan mit der Frage verknüpft, wie eine Gesellschaft mit einer solch unvorstellbaren Katastrophe umgeht - und welche Rolle dabei einer Religion zukommt.

In Gesprächen mit Zen-Mönchen, bei Besuchen von Tempeln und der Dokumentation von Ritualen wie dem Obon-Fest2 zeichnet Graf ein Bild des Zen-Buddhismus, das uns hier zumindest fremdartig vorkommen dürfte. Während im Westen die Praxis des Zazen als individuelle Erfahrung, als Erlebnis des einzelnen Subjekts, im Mittelpunkt steht, hat der Buddhismus in Japan eine gesellschaftliche Funktion, die am ehesten mit der Stellung der christlichen Kirche in Europa zu vergleichen ist.

“Der Transfer des Zazen in den Westen resultierte in erheblichen Veränderungen der semantischen, pragmatischen und funktionalen Dimensionen dieser Praxis.”

Dõgens Hishiryō (Nicht-Denken) als essentielle Haltung im Zazen meint das Abfallen von Selbstreflexion. Zazen ist die Übung der Mönche in Selbstlosigkeit und dient letztendlich der Stärkung der Rituale in den Klöstern, die sehr spezifische soziale Aufgaben innehaben. So gibt es zahlreiche Bittritual-Klöster, in denen für Katastrophenschutz gebeten oder lokale Wächtergötter angerufen werden. Vor allem aber sind es Trauerrituale und Formen des Ahnengedenkens, in denen der Zen-Buddhismus nicht wegzudenken ist - Praktiken, die im Film mit teilweise extrem seltenen Aufnahmen dokumentiert werden und der Pflege der Verbundenheit mit den Toten dienen.

Auch wenn viele Japaner am Neujahrstag einen Shinto-Schrein besuchen, bevorzugt im christlichen Stil heiraten und sich auf Nachfrage selbst als religionslos bezeichnen: im Umgang mit dem Tod dominiert der Buddhismus.

Nach der Dreifachkatastrophe am 11. März 2011 übernehmen viele Zen-Priester eine wichtige Rolle in der Organisation von Hilfe; Zen-Tempel öffnen ihre Tore für Flüchtlinge; nicht zuletzt kümmern sich die Buddhisten um die spirituellen Sorgen und Nöte der Menschen, die oft nicht nur ihr Hab und Gut sondern auch ihre Familien und ihre Heimat verloren haben.

Die bloße Tatsache, dass hier ein Tempel steht, bedeutet, dass wir uns um die Bedürfnisse und Nöte der Menschen kümmern müssen.

Die Filmemacher um Graf wollten ursprünglich nur die visuelle Kultur des Zen-Buddhismus in Japan dokumentieren. Indem sie die vielgestaltigen und durchaus exotischen religiösen Formen des Buddhismus mit der sehr konkreten Hilfestellung in Krisenzeiten verknüpfen, zeigen sie am Beispiel des Zen, welche Bedeutung buddhistische bzw. allgemein religiöse Vorstellungen und Praktiken auch in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft innehaben. Damit ermöglichen sie einen beeindruckend Blick auf die über das einzelne Individuum hinausreichende Bedeutung religiöser Praxis.

Sich zu sorgen und zu engagieren, ist im Kern ganz einfach aber wirkungsvoll - und kann schon mit dem Wunsch beginnen, jemandem eine Freude zu bereiten. Unter welchen Umständen auch immer.

Souls of Zen: Nach dem Tsunami - Buddhismus und Ahnengedenken in Japan 2011

Ein Film von Tim Graf & Jakob Montrasio.


  1. Dõgen: Shobogenzo zuimonki I,19, Seite 62. 

  2. O-bon (jap. お盆) ist ein japanischer buddhistischer Feiertag zur Errettung der Geister der verstorbenen Ahnen. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Obon


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