Dein Kind weint während deiner morgendlichen Meditationspraxis. Wie reagierst du?

Während du an deinem „spirituellen Fortschritt“ arbeitest, braucht ein Mensch deine Hilfe. Wie verhältst du dich?

Vielleicht gehst du gerade der größten aller Fragen nach und fühlst dich - endlich oder wieder einmal? - einer Antwort nahe; da ruft dich der Alltag in Form eines Abwaschberges. Was tust du?

In einer klassischen Schilderung im Zen hängt ein Mensch an einer Felswand über einem tiefen Abgrund. Er hält sich nur an einem Ast, in den er mit dem Mund beißt. Plötzlich wird ihm die Frage gestellt:

„Was ist der Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen?“

Im Shõbõgenzõ Soshi Sairai no i erläutert Meister Dõgen diese scheinbar ausweglose Geschichte:¹

Wenn der über der Felswand Hängende in diesem Augenblick seinen Mund öffnet, um den anderen zu antworten, verliert er Leib und Leben. Wenn er dem anderen aber nicht antwortet, weicht er der Frage des anderen aus.

Die Situation des Menschen in diesem Fall versinnbildlicht auf fast groteske Weise das Verhalten eines jeden von uns: Wir sind in jedem Augenblick darauf angewiesen, uns an etwas festzuhalten, das uns vor dem freien Fall bewahrt. Doch beim bloßen Halten - oder beim Springen von Ast zu Ast - bleibt es nicht. Haben wir etwas gefunden, das uns sicheren Halt zu geben vermag, verbeißen wir uns in die Sache. Und jemand, der verbissen an etwas hängt, hat oft wenig Lust, los- und sich auf anderes einzulassen.

Die Frage, welchen Sinn Bodhidharmas Kommen aus dem Westen hatte, zieht sich durch die Geschichte des Zen. Die Antworten erscheinen in aller Regel absurd. Wie Brad Warner in einem Text über die Verantwortung eines Zen-Schülers schreibt, hatte Bodhidharmas Gang in den Westen - in Bezug auf die Entwicklung des Zen - allerdings gar keinen Sinn:

The point of the koan is that Bodhidharma just wanted to sit. Bringing Zen to China was something that happened along the way.

Die Frage führt also in die Irre: der Weg des Bodhidharma von Indien nach China war in sich sinnfrei, besaß in jedem Fall keine über sich selbst hinaus weisende Intention, war eher, Schritt für Schritt, bloßer Versuch, dem jede Sinnzuschreibung durch die Nachwelt Unrecht tut. Dass aus Bodhidharmas Wanderung in den Osten und seinen einsamen Jahren in einer Höhle der Zen-Buddhismus entstand, ist nicht der Sinn von Bodhidharmas Praxis. Eine adäquate Antwort auf die gestellte Frage gibt es nicht.

Der Sinn der Frage liegt eher in der Situation: Entschließt sich der am Ast Hängende zu antworten, öffnet er also seinen Mund, wird er fallen - er lässt los und verliert „Leib und Leben“. Oder, wie es Dõgen ausdrückt:

wenn ihr dem anderen dann plötzlich doch antwortet, verändert sich euer Leib vollständig, und ihr erwacht zu neuem, kraftvollem Leben.

Der Sinn jeder Frage, die das Leben stellt, liegt in der Antwort. Um die Antwort, um die geht es. Moment für Moment.