Im Allgemeinen ist es der Alltag der Buddhas und Vorfahren, Tee zu trinken und die Mahlzeiten zu essen.1

So lapidar beschreibt Meister Dõgen im Shõbõgenzõ Kajõ das Leben und Wirken der buddhistischen Meister. Nichts Heiliges, nirgends. Spiritualität, Buddha-Natur hat nichts zu tun mit einer höheren Sphäre, einem (wertvolleren) Wesenskern - das sogenannte Spirituelle ist der Alltag.

Der alltägliche Geist ist der Weg,

antwortet Nansen denn auch auf Jõshu’s Frage nach dem Weg2. Die Mahlzeiten, die tägliche Arbeit, die Pflege des Körpers sind der Ort der Zen-Praxis; der Lauf der Welt, der Gang der Jahreszeiten, Leben und Leid aller Wesen gilt es nicht nur zu vergegenwärtigen, sondern anzunehmen; das Annehmen, Bejahen wiederum ist der erste Schritt, voll und ganz eins zu werden mit dem, was der Fall ist.

Die Blumen im Frühling - der Mond im Herbst,
im Sommer die kühle Brise - im Winter der Schnee!
Wenn unnütze Sachen den Geist nicht vernebeln,
Ist dies des Menschen glücklichste Jahreszeit,

so Mumons Vers zum berühmten Koan. Wenn unnütze Sachen den Geist vernebeln, dann sind wir getrennt - und: “wovon wir getrennt sein können, das ist nicht der Weg”. Die “unnützen Sachen” nun sind all die Täuschungen unseres Ich, die unterscheidenden Gefühle und Gedanken, die von mir als dem zu erhaltenden Zentrum ausgehen und sich genau deshalb als der Welt Entgegengesetztes und Getrenntes inszenieren. “Unnütze Sachen” sind aber ebenso all die hehren Vorstellungen von einem Anderen, Besseren, vom ewigen Kern des Selbst und dem höheren Wert der spirituellen Praxis. Oder, da wird es langsam kompliziert, die Vorstellung, die man sich vom Alltag (vom Tee, vom Essen, vom Arbeiten) macht.

Ebenso unnütz: die Idee von Erleuchtung oder der Realisierung der “Buddha-Natur”.

Es hat kein Ende, über das Tiefgründige zu sprechen und das Wunderbare zu erklären.
Gebt Acht, dass euch die Geschichte von Buddhas emporgehaltener Blüte nicht zu sehr betört!3

liebe

Einmal Nirvana und zurück

Nun gibt es ja auch im Zen so etwas wie Erleuchtung: Ein Bodhisattva erwacht zum Nirvana - und steigt nicht aus dem Daseinskreislauf aus, sondern kehrt zurück bzw. bleibt, wo er ist: in der Welt.

Zahllos sind die Lebewesen.
Ich gelobe sie zu befreien.

So heißt es im ersten der Bodhisattva-Gelübde. Hat man es also “geschafft”, macht man sich an die de facto endlose Arbeit - und macht weiter wie zuvor? Was heißt es, alle Lebewesen zu befreien?

Gesshin Greenwood findet dafür in ihrem Post Shit’s impossible, let’s keep doing it eine einfache und anschauliche Beschreibung, indem sie die Befreiung der zahllosen Lebewesen mit dem Erlernen der ebenso zahllosen japanischen Schriftzeichen vergleicht:

The Buddha-Way is unsurpassable, yet we vow to realize it. In studying Japanese, as in practicing Buddhism, I’ve personally found it useful to focus just on what’s in front of me right now. What is the homework today? Not: holy shit there are 3,000 kanji and I only know 400 and can’t even remember how to write 仕事, which is like, the easiest kanji ever!

Natürlich geht es um das Wohl aller Wesen. Aber wo fängt dieses Wohl an? Bei dem Menschen direkt vor mir. Bei der Handlung jetzt.

Alles, was der Bodhisattva gelobt, ist: bei dem zu sein, was gerade jetzt ist. Die Praxis des Bodhisattva kennt kein Ziel, nichts, was es zu erreichen oder zu erlangen gibt. Sie kennt nur den Impuls als Ausgangspunkt, man könnte es Bodhichitta nennen: das Gewahrwerden einer alles umfassenden Liebe, einer Verbundenheit mit allem. Und davon ausgehend ein Wirken, dass nicht selbstbezogen sondern im tiefsten Sinn des Wortes selbstlos ist.

Ich befreie den Menschen, der mir von Angesicht zu Angesicht gegenüber steht: von meinen Vorstellungen über ihn, von meinen Zwängen und Erwartungen. Ich übe mich darin, mich mit der Situation zu verbinden, statt mich ihr gegenüberzustellen. Mich nicht an meine Vorstellungen von den Dingen zu klammern, sondern mit der Wirklichkeit zu sein. Ohne Strategie, ohne Plan. Dafür: Voll da.

Was ist Nirvana?

wird Shunryu Suzuki gefragt. Seine Antwort: “Seeing one thing through to the end.”4


  1. Meister Dõgen: Shõbõgenzõ Kajõ. In: Shõbõgenzõ Band 3. Aus dem japanischen Urtext ins Deutsche übersetzt von Ritsunen Gabriele Linnebach und Gudō Wafu Nishijima. Heidelberg 2014. S. 252 

  2. Mumonkan. Die torlose Schranke. Zen-Meister Mumons Koan-Sammlung. Fall 19. Kösel, 2011. S. 133 

  3. So zitiert Dõgen seinen Meister Tendõ Nyojõ im Shõbõgenzõ Kajõ. 

  4. In: Zen Is Right Here: Teaching Stories and Anecdotes of Shunryu Suzuki. Shambala Publications 2011. 


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