Vor einem Sesshin, einem mehrtägigen Rückzug in die Stille, geht es mir eigentlich immer gleich: Ich habe keine Lust. Warum tue ich mir das an? Muss das sein? Hat das irgendeinen Sinn?

Raus aus dem Alltag!

Immerhin habe ich mich im Vorfeld mit der Buchung für eine Teilnahme am Sesshin entschieden. Ich habe mich bereit erklärt, tagelang zu schweigen und zu sitzen, mit kurzen Pausen zum Essen und Arbeiten, und auf alles zu verzichten, was in meinem Leben sonst eine Rolle spielt. Ich zahle dafür auch noch Geld!

Doch immer, wenn es soweit ist, regt sich in mir verlässlich ein Schutz- und Fluchtreflex. Dante’s Laßt jede Hoffnung hinter euch, ihr, die ihr eintretet kommt mir in den Sinn; am Tor zum Himmel wie zur Hölle muss man die Waffen niederlegen und alles Persönliche hinter sich lassen. Genau das ist es: Lange Tage warten auf mich, wo nichts von dem eine Rolle spielt, was mein “Alltags-Ich”, oberflächlich betrachtet zumindest, umtreibt, beschäftigt, ausmacht. Ich stelle meine Vorlieben, Begierden, Gewohnheiten hinter eine Gemeinschaft zurück, in der ich mich fortan, seltsam ungeschützt, bewegen werde. Doch ich will nicht verzichten. Ich will nicht loslassen, was ich bin.

Bitte setzen.

Sesshins, Tage der Sammlung, der Kontemplation, der Stille, sind merkwürdige Veranstaltungen. Da treffen sich zehn, zwanzig Menschen jeden Alters für ein par Tage, um miteinander vor der Sonne aufzustehen und in einem Raum zu sitzen, gemeinsam zu essen und zu arbeiten, Tee zu trinken und: zu schweigen. Jeder ist für sich und doch mit den anderen. Wenn dann am Ende das Schweigegebot aufgehoben wird, hat man nicht selten das Gefühl, altbekannten Freunden zu begegnen.

Ein gutes Sesshin ist eines, wo ich aufhöre, mich um mich zu drehen, wo ich nicht nur ein Gefühl von Gemeinschaft verspüre, sondern mitten in ihr ankomme. Wo das Grübeln über die eigenen Probleme nachlässt: wenn ich aufhöre, mich um mich selbst zu drehen, ist da nichts als offener Raum.

sesshin

Der erste Tag vergeht meist, indem ich hilflos meinen Gedanken zusehe, wie sie in einem Nebel aus Müdigkeit kreisen; mit jedem weiteren Tag wächst die Stille. Weiterhin beaufsichtige ich meine im leeren Raum spielenden Gedanken, lausche Ohrwürmern, bin hungrig oder müde; gleichzeitig aber zeigt sich über / unter diesen zeitweiligen Geschehnissen eine fortwährende, beständige und eigentlich ziemlich zuversichtliche Ruhe. All das, was in meinem Kopf oder um mich herum passiert, verliert an Dringlichkeit; das Gefühl für den Raum, in dem sich all das Sein vollzieht, stiftet Vertrauen und sorgt für so etwas wie wohlwollende Neugier.

Das Geheimnis eines Sesshins liegt in der gemeinsamen Kontemplation - und in der Dauer. Jeder, der sich ab und zu auf ein Meditationskissen setzt, verfolgt damit zu Beginn ein Ziel. Er sitzt, um ruhiger zu werden, glücklicher zu werden, um nachzudenken. Wenn er länger sitzt und gar noch mehrere Tage am Stück, verschwinden die Ziele irgendwann. Man kann schlichtweg nicht tagelang auf einem Kissen sitzen, um etwas zu erreichen. Wenn man nicht vorher aufgibt, stellt man irgendwann fest, dass es nichts zu erreichen gibt. Und dass man auch ohne ein Ziel, ohne ein um zu bestens, ja viel besser, sitzen kann.

Steht man auf und kehrt in den Alltag zurück, denkt man schnell genug wieder in den altvertrauten Kategorien und vergisst über den Zielen den Weg: das was ist.

Der Alltag ist der Weg

Lange Zeit hatte ich auf der Rückfahrt von einem Sesshin das gleiche Gefühl wie auf der Hinfahrt: Ich will da nicht hin, wo ich gerade hinfahre. Ich will mir die Ruhe bewahren, ich fühle mich in der Stille so wohl, ich will nicht müssen. Und es soll sich bitte nichts zwischen mich und die jetzt empfundene Einfachheit und Klarheit stellen! Zuhause angekommen, dauerte es dann nur Minuten, bis Einfachheit, Klarheit, Ruhe dahin und pure Illusion waren. Zwei Arbeitstage später hatte mich der Alltag fest in seinen Klauen.

Das japanische Wort Sesshin heißt soviel wie “Sammlung des Herz-Geistes”, wie Doris Zölls schreibt:

Der Herz-Geist trennt nicht, wertet nicht, grenzt nicht ab. Aus dem Herz-Geist entfaltet sich die vorurteilsfreie und nicht bewertende Liebe, die keinen Grund und keine Eigeninteressen kennt.1

Im Sesshin übe ich mich darin, die Identifikation mit den eigenen Begierden und Interessen zu lassen und den offenen Raum wahrzunehmen, der alles Seiende eint. “Man sieht nur mit dem Herzen gut.” So wahrgenommen, ist mein eigenes um zu, mein Wollen, Müssen, Tun, nur eine Option unter vielen. Die “Sammlung des Herz-Geistes”, die Übung des Zen, öffnet über die Zeit den Raum, in dem geschehen darf, was auch immer geschieht, für eine Offenheit gegenüber dem Möglichen jenseits meiner eigenen Konzepte; das sorgt für Entspannung, Vertrauen und Zuversicht. Auch und gerade im Alltag.

Mittlerweile haben Sesshins für mich den Charakter einer Gegenwelt verloren: ein Sesshin ist keine Ausnahme vom Alltag.

Meister Dõgen zitiert im Shõbõgenzõ Kajõ seinen Meister Tendõ Nyojõ:

Eingehüllt durch zahllose Schichten von Nebel und Wolken,
saß ich ein halbes Jahr lang auf dem Gipfel des Banpõ und aß meine Mahlzeiten.
Plötzlich kam meine Berufung wie ein Donnerschlag.
Die Aprikosenblüten in der Hauptstadt sind im Frühling purpurrot.2

Dõgens Kommentar: “Das Essen der Mahlzeiten ist genau dasselbe wie alle diese unerklärlichen Dinge des Lebens.” Man sollte sich von dem einen wie von dem anderen nicht zu sehr “betören” lassen.


  1. Doris Zölls: Zen als Lebenshaltung. In: Willigis Jäger, Doris Zölls, Alexander Poraj: Zen im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 117. 

  2. Meister Dõgen: Shõbõgenzõ Kajõ. In: Shõbõgenzõ Band 3. Aus dem japanischen Urtext ins Deutsche übersetzt von Ritsunen Gabriele Linnebach und Gudō Wafu Nishijima. Heidelberg 2014. S. 254