Das ganze Geheimnis des Zen
|Mein Kater ist gestorben.Ich weiß nicht so recht, wohin mit meiner Trauer. Er fehlt mir. Wir haben ihn im Garten unter dem Pflaumenbaum beerdigt, und ich stand den ganzen Tag neben mir. Am nächsten Tag habe ich versucht, nicht zu viel an die vor meinen Augen einschlafende Katze zu denken, am übernächsten Tag war ich dafür ganz hinüber.
Sowieso: Ich habe viel zu viel zu tun, rotiere den ganzen Tag und denke in der Nacht eher an Arbeit als an die Katze. Was bringt der morgige Tag? Wie überlebe ich die nächsten Wochen? Wie soll man nur die vielen Projekte auf einen Nenner bringen, die Termine einhalten, nebenbei noch Sport treiben - und Zeit für die Familie haben? Und was ist mit all dem, was mir noch am Herzen liegt?
Und dann sind da noch: das Klima, Kriege und Konflikte, Terror und Flüchtlinge, Arm und Reich, Politik und Medien, Renteninformation und Mieterhöhung …
Manchmal hasse ich das Meditieren
Im Moment habe ich oft Probleme einzuschlafen. Dann, kaum geschehen, weckt mich das schreiende Baby. Ich liebe dieses kleine Mädchen. Dass ich in der Nacht zu wenig Schlaf bekomme: was soll’s. Man ist nur einmal jung! Irgendwann am nächsten Tag rächt sich der Schlafentzug aber: Ich schaffe meine Arbeit nicht… Und am Abend liege ich wach und mache mir erneut, noch immer, Sorgen.
Es gibt nur eines, was ich tun kann, während ich auf den Schlaf warte: Aufstehen. Auf den Dachboden klettern. Mich aufs Kissen sitzen. Und irgendwie, irgendwie versuchen, mich auf meinen Atem zu konzentrieren.
Es gibt Zeiten, da hasse ich das Meditieren. Gerade eben ist es wieder einmal so weit. Warum? Weil ich einfach nicht weiß, warum ich das tue. Als hätte ich nicht sowieso zu wenig Zeit, sitze ich täglich mindestens eine halbe Stunde schweigend herum, versuche, meine Gedanken loszulassen und denke währenddessen an alles, was den Tag so durch mich hindurchgeht. Sterben und Trauer, Angst und Einsamkeit, Arbeit und Sinnlosigkeit, Politisches und Persönliches, wie etwa die Frage, ob ich mir einen neuen Computer kaufen sollte, obwohl ich Computer doch eigentlich total besch… finde.
Ein besserer Mensch werde ich so nicht.
Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, in der auch die letzten Vögel vor dem Fenster verstummt sind, der Staub im Raum sich noch ein paar Millimeter tiefer in dem leeren Raum hinabgesenkt hat, dessen Stille bis vor wenigen Tagen ein das Katzenklo (oder mich) suchender Kater gestört hat, gerade als meine Gedankenpyramide auf ihrem höchsten zu erreichenden Punkt angelangt ist - da falle ich durch alle Konjunktive und Imperative, Bedeutungen und Sehnsüchte, durch alle als und obs und wenns und wiesos hindurch auf den Boden der Tatsachen:
Ich komme in dem Raum, in dem ich seit längerem sitze, an.
Ich spüre, wie mein Atem geht, ganz unabhängig von allen Aufregungen.
Ich nehme wahr, dass alles da ist, genau jetzt, genau hier, egal, was ich gerade vermisse und wo ich mich in Gedanken herumtreibe.
Es gibt eine Welt außerhalb meiner Gedanken.
“I get on the cushion each day to survive it.”
Neulich hat Brad Warner beschrieben, warum er Zazen praktiziert. In Why I Do Zazen schreibt er:
I’m bitter, resentful, angry, socially awkward and not easy to get to know. When I stress out, I stress all the way out. For me, Zen practice hasn’t been a way to go from well-adjusted guy to All Knowing and All Seeing Master, full of beauty and bliss and rainbows. It’s been a way to keep from going completely off the deep end. … When I sit down on my little cushion in my little apartment each morning and night I know that as boring and silly as sitting there looking at my closet door for half an hour might seem — even to me! — it’s what makes the rest of my life even possible. … I get on the cushion each day to survive it.
Vielleicht bin zu rational, zu nüchtern, zu abgeklärt, vielleicht habe ich nichts verstanden. Aber Zen ist - wie jede andere spirituelle Praxis - kein Weg zu einer höheren, besseren Wirklichkeit; Erleuchtung ist nichts anderes als wahrzunehmen, dass ich nicht das Zentrum des Universums bin.
Es gibt eine Welt außerhalb meiner Gedanken, jenseits meiner Konzepte und ungeachtet meiner Begierden. Mich in Achtung und Dankbarkeit und Demut dieser Welt gegenüber zu üben, das ist, in meinen Augen, das ganze verdammte Geheimnis des Zen.