Zurück zur Einfalt?
|Über unserer eigenen Komplexität ist uns die Einfalt abhandengekommen,
sagt Sebastian Hennig im Politischen Feuilleton des Deutschlandradio. Wir müssten, so Hennig, das vorurteilsfreie Schauen, wieder lernen.
Es gibt heute tatsächlich nichts Schwierigeres, als einfach zu schauen – zu schauen, was zu sehen ist. Ohne Vorurteil sein zu wollen, wird schnell zur ideologischen Behauptung. In Wirklichkeit fordert dieser Anspruch heraus, die eigene Fähigkeit zum Betrachten und Assoziieren zu entwickeln und das Augenscheinliche nicht zu missachten.
Ob in einer Ausstellung, ob im täglichen Leben oder eben auf dem Kissen: kaum bin ich da, schon bin ich wieder weg. Jeden Augenblick schieben sich Erinnerungen, Sorgen, Fragen, vermeintlich Bedeutendes aller Art, vor die Wahrnehmung dessen, was ist. Bevor ich wahrnehme, was um mich ist, haben sich schon allerlei Bilder darüber gelegt, die ich mit mir herumtrage.
Einfalt vs. Komplexität?
Ist dieser scheinbare Gegensatz von Einfalt und Komplexität wirklich ein Problem? Und wenn ja: was wäre die Lösung?
Jede Wahrnehmung ist immer schon kulturell und personal geformt und geprägt - da gibt es kein Ei, das vor dem Huhn da war. Wahrnehmung ist also von Beginn an komplex, weil mit zahlreichen Bedeutungsebenen - persönlicher wie gesellschaftlicher Art - verknüpft. Ohne diese wäre meine Wahrnehmung auf beiden Augen blind.
Die Wahrnehmung kommt in Form einer Ausdehnung für das Hoheitsgebiet des Ego und versucht, seine Position noch genauer zu bestimmen,
schreibt Chögyam Trungpa in seiner Einführung in die buddhistische Psychologie, Wie unser Geist funktioniert. Auch der Begriff Karma beschreibt im Grunde, wie mein Ich sich im und mit dem Akt der Wahrnehmung konstituiert und bestätigt. Die Skandhas, wie sie Trungpa in seinem Buch beschreibt, bilden einen äußerst komplexen “Haufen”, aus dem sich zusammensetzt, was ich Ich nenne.
Andererseits aber ist Form “nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form.” Ist etwa dieses “vorurteilsfreie Schauen”, von dem bei Hennig die Rede ist, ein Zustand “jenseits aller Illusionen”, der im Herz-Sutra als Nirvana bezeichnet wird? Und wie gelange ich aus meinem ach so komplexen Sein in jenen vorurteilsfreien, illusionslosen Zustand?
Erwachen: Einfalt, Komplexität, dasselbe?
Als man die Höhlen von Altamira nahe der spanischen Stadt Santillana del Mar entdeckte, war es nicht der Forscher, sondern seine fünfjährige Tochter, die auf die prähistorischen Wandmalereien aufmerksam wurde. Das kleine Mädchen entdeckte sie im Wortsinne spielend, während der wissenschaftlich arbeitende Vater darüber hinweggesehen hatte.
Die Antwort ist einfach und - natürlich - zugleich ziemlich komplex. Gefragt ist ein Erwachen zur Wirklichkeit: zur Situation, in den Augenblick. Das vollzieht sich immer genau hier, genau jetzt - und ist als Zustand nicht zu haben.
Mich in Einfalt üben: im Zen ist die Rede vom “Nicht-Wissen”. Immer wieder in die jeden Augenblick neue Situation zurückzukehren, gegenwärtig zu sein, das ist die Übung. Die Komplexität ist natürlich immer schon da. Allerdings: alles, auch das Komplexeste, ist in diesem Augenblick, an diesem Ort, nur als Einfaches zu erfahren. In der Sichtweise des Zen gibt es immer nur einen Punkt nach dem anderen, Augenblick für Augenblick.
So sind Einfalt und Komplexität in Wirklichkeit eins, ein- und dasselbe. Es sind nur verschiedene Modi der Wahrnehmung. Als Hilfsmittel für die Einübung in “Einfalt” habe ich meinen Körper und meine Sinne.
Die Weisheit, mit Situationen so umzugehen, wie sie sind - und genau dies bedeutet Weisheit -, schließt eine außerordentliche Genauigkeit ein; diese kann nirgendwo anders herkommen als von den körperbezogenen Situationen des Sehens, Riechens, Fühlens, der greifbaren Gegenstände und Klänge.